Te Waimate, Ende Februar 1845
Miss Morton warf Maggy einen besorgten Blick zu. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie ihr Kind bekäme. Die junge Frau konnte sich kaum mehr aufrecht halten. Wie gut, dass sie Ripeka hat, dachte die Lehrerin. Die Maori kümmerte sich rund um die Uhr um die hochschwangere Maggy. Der werdenden jungen Mutter ging es nämlich überhaupt nicht gut. Seit sie vor einiger Zeit einen Brief aus Paihia erhalten hatte, brach sie bei jeder Gelegenheit in Tränen aus. Bella hätte zu gern gewusst, was Emily Carrington, die ihre Tochter noch nicht ein einziges Mal besucht hatte, ihr Schreckliches geschrieben hatte. Doch sie traute sich nicht, das ohnehin angeschlagene Mädchen noch zusätzlich mit neugierigen Fragen zu bedrängen. Und doch wollte ihr der Anblick der unglücklichen Maggy schier das Herz brechen. Wie jeden Abend saß das arme Mädchen mit verweinten Augen in einem Sessel und hielt jenen Brief in der Hand. Bella Morton mutmaßte, Maggy sei traurig, weil man sie nach Auckland abschieben wollte, denn Emily hatte ihr, Bella, ebenfalls einen Brief geschrieben. Mit der Anweisung, Maggy sofort in die dortige Mission zu begleiten. Bella aber hatte nicht gezögert, Emily zu erwidern, dass sie nicht daran denke, deren Befehle auszuführen, und dass Maggy in ihrem Zustand in Te Waimate bleiben werde. Und zwar solange es ihr, Maggy, passe. In ihrem Zustand, hatte Bella dreimal unterstrichen. Bella Morton hätte einiges darum gegeben, einen Blick in den verdammten Brief werfen zu können.
Maggy blickte gequält in die Ferne. Sie brauchte nicht zu lesen, was in dem Brief ihrer Mutter stand, denn sie kannte jedes Wort in- und auswendig.
Maggy, wunderst Du Dich wirklich, warum ich Dich nicht besuche? Kannst Du Dir nicht denken, warum ? Du erinnerst Dich an den Schwur auf die Heilige Schrift, nicht wahr? Du wolltest niemandem gegenüber auch nur ein Sterbenswort darüber verlauten lassen, was Dir widerfahren ist. So weit Dein Schwur, doch Du hast ihn gebrochen! Du hast Ripeka alles erzählt! Du weißt, dass das ein Unglück geben wird. Wir haben Bella Morton Anweisung gegeben, Dich unverzüglich in die Mission nach Auckland zu bringen. Du wirst jedenfalls keinen hergelaufenen Maori heiraten!
Deine Mutter
Maggy biss sich auf die Lippen. Nicht schon wieder weinen!, dachte sie, denn sie spürte sehr wohl, wie besorgt Miss Morton sie musterte. Sie konnte sich sicher sein, dass die Lehrerin zu ihr hielt. »Nur über meine Leiche werden sie dich nach Auckland verfrachten!«, hatte sie empört ausgerufen.
Krampfhaft versuchte Maggy an das Gute zu denken. An Ripekas unermüdliche Unterstützung, an Miss Mortons Hilfe und an Tiaki, der erst kürzlich wieder in Te Waimate erschienen war. Maggy hatte schon befürchtet, er werde sie nicht wieder aufsuchen, doch genau vor drei Tagen hatte er an Bella Mortons Haustür geklopft. Maggy war allein zu Hause gewesen und hatte ihm geöffnet. Bei seinem Anblick war sie zusammengezuckt. Tiakis sonst so offenes Gesicht hatte finster ausgesehen.
»Dein Bruder weiß nicht, dass du schwanger bist, oder?«, hatte er ihr auf den Kopf zugesagt.
Sie hatte geschwiegen.
»Und du warst auch nie verheiratet, nicht wahr?«
Sie hatte den Blick auf den Boden geheftet.
»Wirst du trotzdem meine Frau?«
Maggy hatte gemeint, sich verhört zu haben. Sie hatte verwundert aufgeblickt. Tiaki hatte sie angestrahlt. »Ja!«, hatte sie freudig ausgerufen und immer wieder: »Ja!«
Den ganzen Tag über hatte sie mit sich gekämpft, ob sie ihm, wenn auch nicht die ganze Wahrheit, so zumindest gestehen sollte, dass der Vater ihres Kindes ein Pakeha war. Doch der Brief ihrer Mutter hatte sie davon abgehalten. Sie hatte den Schwur bereits einmal gebrochen. Nein, sie hatte ihm die Wahrheit einfach nicht sagen können. Und er hatte ihr versprechen müssen, Matthew nichts von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. »Ich sage es ihm selbst«, hatte sie Tiaki geschworen. Aber würde sie das wirklich tun? Insgeheim spielte sie mit dem Gedanken, Tiaki zu überreden, sich als Vater des Kindes auszugeben. Hoffentlich ähnelt das Kind eher mir, flehte sie, hoffentlich!
Ach, es wird alles gut, dachte Maggy noch, als ein höllischer Schmerz ihren Unterleib durchfuhr und sie förmlich zu zerreißen drohte. Sie erhob sich schreiend aus dem Sessel, sank zusammen und fiel zu Boden.
Bella Morton wusste sofort, was das zu bedeuten hatte, und rief aus Leibeskräften nach Ripeka, die in ihrem Leben schon vielen Kindern auf die Welt geholfen hatte.
Die Maori kam herbeigeeilt und beugte sich über die stöhnende Maggy. Mit aller Kraft hievten sie das Mädchen hoch und legten es auf Miss Mortons Sofa.
»Tücher und heißes Wasser, bitte!«, befahl Ripeka der Lehrerin, während sie Maggy eine alte Decke unter den Körper schob. Dann ging alles ganz schnell. Maggy brüllte wie am Spieß, als ein Köpfchen den Weg in diese Welt suchte.
Ripeka lief der Schweiß von der Stirn, aber sie packte geschickt den Kopf des Kindes und zog es unversehrt aus dem Mutterleib. Kaum hielt sie das kleine zarte Mädchen mit den rotblonden Löckchen auf dem Kopf im Arm, da verstummten Maggys Schmerzensschreie.
»Ist es gesund?«, hauchte sie schwach.
Ripeka nickte, obgleich sich ihr Herz zusammenzog. Keine Frage, das Baby war gesund, aber es war ein Ebenbild Emily Carringtons. Ripeka wusste zwar nicht, wie jene bei ihrer Geburt ausgesehen hatte, aber sie konnte es sich in etwa vorstellen. Jedenfalls hatte das Mädchen nichts, aber auch gar nichts von einer Maori. Bis auf das eine: Seine Augen waren nicht blau, sondern verräterisch braun. Ripeka fröstelte, doch dann nahm ein herzzerreißendes Schreien ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie wiegte das Kind hin und her, bis es endlich Ruhe gab. Da erst legte sie es Maggy an die Brust. Die aber starrte den Säugling an, als wäre er der Teufel selbst.
»Sie ... sie ist wie ... wie ... sie sieht genauso aus wie ... wie ...«, stammelte Maggy völlig verstört, während sie das hungrige Kind stillte.
»Kindchen, das ist nicht dein Problem«, versuchte Ripeka sie zu beruhigen. Unterdessen stierte Bella Morton das Neugeborene an, als wäre es von einem anderen Stern. Sie warf Ripeka einen fragenden Blick zu, doch die reagierte nicht. Was sollte sie auch sagen? Es war offensichtlich, dass das kleine Mädchen dort eine waschechte Pakeha war.
Maggy aber war den Tränen nahe. Wieder einmal hatte der Herr ihre Gebete nicht erhört. Was würde Tiaki dazu sagen? Doch mit einem zärtlichen Blick auf das Neugeborene, das laut schmatzend an ihrer Brust sog, waren alle diese Bedenken wie weggeblasen. Ihr Herz wollte schier überquellen vor lauter Liebe für dieses zarte, rot gelockte, wunderschöne Wesen aus einer anderen Welt.
Nachdem die Kleine auch noch die zweite Brust gierig leer getrunken hatte, schlief sie ein. Ripeka nahm Maggy trotz ihres Protestes das schlafende Kind ganz sanft aus den Armen.
»Sie muss gebadet werden«, sagte sie leise und verließ das Zimmer mit dem Baby auf dem Arm.
»Maggy, wer ist der Vater des Kindes?«, fragte Bella Morton jetzt ohne Umschweife.
Maggy zuckte zusammen. »Ich, ich habe geschworen, es nie, es keinem Menschen je, nie zu verraten«, stammelte sie.
»Hat dich der Mann dazu gezwungen?«, hakte Bella erbarmungslos nach.
Maggy schüttelte heftig den Kopf.
»Was ist dann geschehen, und vor allem, wer war es?«
»Ich darf es nicht sagen. Ich habe es auf die Bibel geschworen, und wenn ich den Schwur breche, wird ein großes Unheil geschehen«, presste Maggy verzweifelt hervor.
Bella stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wer dich auch immer dazu verdonnert hat, das war nicht rechtens und ganz sicher nicht im Sinne des Herrn. Ich kann mir allerdings schon vorstellen, wer ...«
»Pst! Bitte sprechen Sie nicht weiter. Das ist Sünde.«
Bella biss sich auf die Lippen, doch dann zischte sie durch die Zähne: »Wer sich hier an wem versündigt hat, das gilt es noch zu klären!«
»Bitte, bitte, sagen Sie nichts! Zu niemandem. Ich werde mit dem Kind fortgehen, sobald ich wieder auf den Beinen bin.«
»Und was ist mit Tiaki?«
»Sie glauben doch nicht allen Ernstes, dass er mich noch heiraten wird, wenn er ...«
»Wann werde ich dich nicht heiraten?«, ertönte nun Tiakis Stimme. Er war so leise in das Zimmer getreten, dass sie ihn nicht gehört hatten.
»Du?« Ihre Augen waren vor Staunen geweitet. Sie kroch rasch bis zum Hals unter die Decke. Er musste ja nicht unbedingt einen Blick auf die von der Geburt befleckten Laken erhaschen.
»Ich habe dir doch versprochen, dass ich nach dir sehe, wenn unsere Mission erfüllt ist, aber ich möchte dich lieber noch einmal vor dem allerletzten Schlag in meine Arme schließen. Wer weiß ...«
»Ihr werdet es doch nicht noch einmal versuchen, oder?«, mischte sich Bella Morton ein.
»Doch, wir müssen. Und wenn Sie es erlauben, möchte ich mit Makere unter vier Augen sprechen. Es gibt da einiges zu klären.«
»Ich habe vorhin mein Kind bekommen«, sagte Maggy heiser.
»Was ist es ? Ein Junge oder ein Mädchen ?« Sein Gesicht bekam einen weichen Zug.
»Ein kleines Mädchen«, erwiderte Bella statt Maggy, und sie fügte hastig hinzu: »Aber du wirst es heute nicht sehen können, denn Ripeka und ein paar Maori-Frauen veranstalten ein Geburtsritual und werden vor heute Abend nicht zurück sein ...«
Tiaki stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. »Schade, ich hätte sie so gern vorher gesehen, denn ich muss bald zurück, weil wir uns am Abend noch einmal mit Kawitis Männern besprechen, und am elften März ist es endlich so weit...«
»Seid doch nicht dumm, dieses Mal werden sie euch mit Waffengewalt davon abhalten. Es wird Tote geben«, unterbrach Bella ihn energisch.
»Nein, uns wird nichts geschehen, denn nicht nur unsere Ahnen sind auf unserer Seite, sondern auch Gott steht uns bei. Er ist nicht nur der Herr der Pakeha. Ihr habt gewollt, dass er auch unser Gott wird. Und nun kämpft er mit uns. Ja, er ist auf unserer Seite, denn er ist gerecht.«
Bella schüttelte unwirsch den Kopf. »Ja, ja, mein Junge, so kann man es sich auch schönreden, wenn man sehenden Auges in den Tod rennt.«
Tiaki aber lachte laut auf. »Es wird nur einen Toten geben. Den Fahnenmast vom Maiki!«
Maggy aber lag regungslos in ihrem Bett und hörte dem Gespräch der beiden gar nicht zu. Sie kämpfte mit sich, ob sie es nicht endlich hinter sich bringen sollte. Sie hatte keine Wahl. Wenn er die Kleine sah, gab es nichts mehr zu beschönigen. Sie musste es ihm sagen, und zwar sofort.
»Warte«, hauchte sie schwach. »Ich muss dir etwas sagen, meine Tochter ist...«
Miss Morton unterbrach sie entschieden. »Die Kleine ist wohlauf und ein zähes kleines Mädchen. Sie ist zwar zart, aber sie schreit für zehn.« Miss Morton warf Maggy einen warnenden Blick zu. »Ich glaube, der junge Krieger braucht jetzt seine ganze Kraft, um das zu tun, wovon ihn keine noch so wohlmeinenden Ratschläge abbringen können, und möchte nichts über Babys hören.«
»Doch, gern, erzählt mir ruhig mehr. Ist sie so hübsch wie du? Besitzt sie dein schönes Haar?«
Maggy aber presste die Lippen fest aufeinander, denn sie hatte verstanden, was ihr die Lehrerin zu sagen versuchte. Tiaki sollte nicht belastet in den Kampf ziehen, sondern in dem Wissen, dass in Te Waimate seine zukünftige Familie auf ihn wartete.
»Makere, ich muss dich trotzdem noch einmal kurz unter vier Augen sprechen«, wiederholte Tiaki mit Nachdruck. »Wir müssen über die Hochzeit reden.«
Maggy stöhnte laut auf.
»Ich bin so schrecklich erschöpft und müde. Lass uns darüber sprechen, wenn du wieder da bist. Bitte!«
»Gut, wenn du meinst, dann werde ich jetzt gehen. Du sollst ja bei Kräften bleiben.«
Maggy rang sich zu einem Lächeln durch.
»Danke«, hauchte sie. »Aber pass gut auf dich auf. Du kommst doch gleich her, wenn alles vorüber ist, nicht wahr?«
»Aber natürlich. Noch am elften März werde ich abends bei dir sein, denn wir schlagen bereits im Morgengrauen zu. Versprochen! Ich kann es nämlich gar nicht mehr erwarten, die Kleine zu sehen und mit dir in mein Dorf zu ziehen.« Er beugte sich zu Maggy hinunter und küsste sie liebevoll auf die Stirn. Dann verließ er zögernd das Zimmer.
Erleichtert atmete Maggy auf.
»Glaub mir! Es ist besser so, denn ich befürchte, es wird ihn sehr aufregen, und dann wird er womöglich unvorsichtig. Die Rotröcke sind fest entschlossen, sich nicht länger auf der Nase herumtanzen zu lassen«, erklärte Bella beinahe entschuldigend.
Maggy aber starrte stumm zur Decke. Warum, lieber Gott, kann das Kind nicht wie ich aussehen?, dachte sie, während ihr stumme Tränen die Wangen hinunterrannen.
Erst Tiakis zornige Stimme riss sie aus ihrem Gebet.
»Warum hast du mir nicht gleich die ganze Wahrheit gesagt?«, schrie er vorwurfsvoll, während er schweren Schrittes an ihr Bett trat. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt.
»Ich habe es eben gesehen, das Kind!«, brüllte er. »Warum?«
»Bitte, lass dir alles erklären. Es ist meine Schuld. Ich dachte, es ist besser, wenn du ohne diese Belastung zum Maiki ziehst«, mischte sich Bella entschuldigend ein.
»Ich habe Makere gefragt«, entgegnete Tiaki zornig. »Warum? Warum diese Lüge?« Er funkelte Maggy, die sich bis zum Hals unter der Bettdecke verkrochen hatte, erbost an.
»Ich ... ich wollte dich nicht belasten, weil du dich doch so darauf freust, eine Familie zu bekommen, und nun wirst du mich nicht heiraten, weil...«, stammelte sie.
»Du hast gedacht, ich würde dich nicht heiraten, weil du ein Kind von einem Pakeha hast. Ich habe sie eben gesehen. Ein wirklich entzückendes Geschöpf.« Er fasste sich theatralisch an den Kopf. »Das kannst du doch nicht ernsthaft geglaubt haben, dass ich dich im Stich lasse, weil du dummes Ding dich von einem Pakeha hast verführen lassen ...«
»Er hat mich ja gar nicht verführt. Ich habe das doch nicht gewollt. Er war stärker ...« Erschrocken schlug sich Maggy die Hände vor den Mund.
Tiaki und Bella starrten sie fassungslos an.
Die Lehrerin fand als Erste die Sprache wieder. »Kind, du musst uns verraten, wer dir das angetan hat.«
»Ich kann nicht!«, schrie Maggy verzweifelt. »Ich kann nicht!«
Dann herrschte Totenstille im Zimmer. Tiakis Gesicht war zur Maske erstarrt. Selbst der Glanz seiner funkelnden Augen schien erloschen zu sein. Bella hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und starrte aus dem Fenster. Maggy aber kämpfte mit sich. Und wenn sie den beiden einfach weiszumachen versuchte, dass es ein Fremder war, dessen Namen sie nicht kannte?
Während sie noch hin und her überlegte, kam wieder Leben in Tiakis Gesicht. Die Erstarrung war nacktem Hass gewichen. »Du hast die Wahl«, erklärte er mit eisiger Stimme. »Ich komme wieder, wenn wir den Mast gefällt haben, und dann nennst du mir entweder den Namen des Mannes, ich erledige die Angelegenheit auf meine Weise, oder ich verrate deinem Bruder, was dir angetan wurde. Und dann, das schwöre ich dir, werden wir den Kerl gemeinsam finden. Dein Bruder Matui weiß nämlich von gar nichts. Er hält dich für ein Kind und hat keinen Schimmer, dass du Mutter geworden bist. Und ich bin gespannt, was er dazu sagen wird ...«
»Bitte nicht, bitte nicht!«, bettelte Maggy und wollte sich an Tiaki klammern, der dicht neben ihrem Bett stand, doch der befreite sich energisch, warf ihr noch einen stechenden Blick zu und zischte: »Du hast die Wahl!«
Ohne die beiden Frauen eines weiteren Blickes zu würdigen, stolperte der stolze Maori-Kämpfer zur Tür hinaus.